Lesepredigt

Lesepredigt zum 9. Sonntag nach Trinitatis

Philipper 3,5-14

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserm Vater und dem Herrn Jesus Christus.

 

 Wie gehen wir um mit unserer Vergangenheit? – diese Frage stellt sich immer wieder in der Öffentlichkeit und im Privaten. Auch ich habe mich vor kurzem mit der Vergangenheit meiner Familie beschäftigt – ausschlaggebend war dafür ein Fotoalbum, dass wir zur Geburt unserer Tochter geschenkt bekommen haben. Darin konnte man einen Stammbaum gestalten und mich hat die Ahnenforschung ein wenig gepackt. Schnell war der Stammbaum bis zu den Urgroßeltern ausgefüllt und ich hatte Interesse daran, noch etwas weiter in der Vergangenheit zu forschen. Nach einigen Telefonaten mit meinen Großeltern habe ich den Stammbaum dann sogar noch bis in das Jahr 1841 zu Johann Karl Friedrich Krasemann, dem Uropa meiner Uroma zurückverfolgen können. Bei den Gesprächen mit meinen Großeltern ist mir aber auch bewusst geworden, dass es auch einige Brüche in der Vergangenheit gibt: Beziehungen zu Familienmitgliedern, die abgebrochen sind, uneheliche Kinder in einer Zeit, in der dies noch gesellschaftlich verachtet war, eine Mutter, die nach dem Krieg alleinerziehend war und aus Überforderung die Kinder bei der eigenen Mutter ließ und nie mehr gesehen wurde. Geschichten, über die man nicht gerne spricht und die doch zur Familien-DNA dazugehören.

Wie gehen wir um mit unserer Vergangenheit? – Verschweigen wir die Brüche oder bewahren wir die Vergangenheit, um die eigene Gegenwart besser zu verstehen? In Familienaufstellungen lernen wir, dass wir – ob wir es vor Augen haben oder nicht – beeinflusst sind von der Vergangenheit. Erfahrungen, die Generationen vor uns gemacht haben, setzen sich fort und werden bewusst oder unbewusst weitergegeben. Daher finde ich es wichtig, die eigene Vergangenheit vor Augen zu haben. Wenn ich um meine Vergangenheit weiß, dann kann ich entscheiden, ob man eine unglückliche Familientradition weiterführt oder sich bewusst gegen sie entscheidet. Doch um das zu entscheiden, muss ich um meine Vergangenheit wissen.

In der letzten Zeit ging es auch in vielen öffentlichen Debatten um die Frage, wie man mit der Vergangenheit umgeht. Kolonialismus, Nationalismus, Antisemitismus – das sind nur einige schwere Lasten der Vergangenheit. Die Meinung schlug dann schnell in die Richtung: Weg mit allem, was an diese Lasten erinnert. Doch sind damit die Lasten der Vergangenheit wirklich beseitigt? – Wenn ich mir die aktuellen Debatten anschaue, dann sind die Probleme leider nicht aus unserer Gesellschaft verschwunden, nur weil wir versuchen die Last der Vergangenheit zu tilgen. Die Probleme verschwinden ja nicht, nur weil man die Vergangenheit unkenntlich macht.

Bei Paulus hören wir heute auch über die Lasten der Vergangenheit – Paulus blickt zurück auf seine Zeit als Verfolger der ersten Christinnen und Christen. Wir hören heute bei ihm:

 

5Ich war aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer,

nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen.

Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.

Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne

9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben.

10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden,

11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.

12 Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.

13 Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist,

14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. 

 

So berichtet Paulus der Gemeinde - dabei scheint er einen Schlussstrich unter seiner Vergangenheit setzen zu wollen. Er will vergessen, achtet die Vergangenheit, seine Vergangenheit gering, angesichts der Zukunft und der neuen Perspektive, die er in Jesus Christus sieht. Mir fällt auf, dass er seine Vergangenheit zurücklässt und gleichzeitig einen Weg geht, bei dem ihm bewusst ist, dass er die Freiheit, die Gerechtigkeit, die innere Gewissheit noch gar nicht hat. Glauben, so lerne ich von ihm, bedeutet nicht, alles in der Hand zu haben, sondern einer Sehnsucht zu folgen, die ihm ins Herz gegeben ist, und dabei auch Brüche in Kauf zu nehmen.

 

„Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“

 

Da ist mir etwas ins Herz gelegt, dass mich auf neue Wege führt. Eine Sehnsucht, eine Ahnung, eine Veränderung, die ich spüre und der ich nachgehen will. Paulus hat für diese Sehnsucht eine echte Lebenswende durchgemacht. Auch heute gibt es Menschen, die ihrem Leben eine Wende gegeben haben oder deren Leben sich – aufgrund äußerer oder innerer Veränderungen – gewendet hat. Menschen, die sich von Sucht frei gemacht haben. Menschen, die sich aus toxischen Beziehungen gelöst haben. Menschen, die sich der eigenen Vergangenheit gestellt haben. Zu solchen Lebenswenden gehört eine große Portion Mut und Kraft, eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung. Manchmal gehört auch dazu, dass man mit der Vergangenheit bricht, Orte und Menschen zurücklässt, um frei zu sein und ein gutes Leben zu führen, das sich stimmig anfühlt.

Da gibt es den Suchtkranken, der erkennen muss, dass er immer wieder in die Sucht zurückfällt, wenn er mit bestimmten alten Freunden wieder zusammenkommt und in alte Verhaltensmuster fällt…

Da hinterfragt jemand seinen beruflichen Werdegang und schaut, ob er nicht doch nochmal etwas Neues ausprobieren will, weil die Arbeit eher Last als Freude geworden ist.

Da gibt es Menschen, die spüren, dass sie in einem anderen Land leben möchten, ein anderes Lebensmodell probieren wollen, weil das alte nicht mehr mit ihren Idealen oder Zielen übereinstimmt.

Eine neue Lebensweise im alten Umfeld zu wagen ist jedoch sehr schwierig. Da kommen Sätze auf wie: „Warum willst du das machen? Das Alte war doch gut so und du weißt doch gar nicht, ob das Neue überhaupt was taugt. Du jagst Träumen nach. Besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Das war doch schon immer so! Das haben wir noch nie anders gemacht!“

Manchmal muss man alte Strukturen verlassen, um für sich selbst neues, gutes Leben zu ermöglichen, aber leicht ist das nicht. Paulus ist ein Mann klarer Worte und Wege. Er ist und bleibt ein streitbarer Mann, der den Konflikt nicht scheut, der Ziele zu verfolgen versteht. In seinem alten Leben als Christenverfolger, wie auch auf seinem neuen Lebensweg als Apostel für die Sache Christi.

An Paulus erkennen wir: Ich kann ein neues Leben beginnen, doch meine Vergangenheit bleibt. Sie prägt mich, mein Verhalten, meine Wahrnehmung, auch meine Begabungen – diese Vergangenheit bleibt ein Teil von mir.

 

Nun aber schreibt Paulus selbst: „Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“

 

Paulus hat den Sinn seines Lebens in der Begegnung mit dem auferstandenen Christus vor den Toren von Damaskus und den darauffolgenden drei Tagen in Blindheit neu überdacht. Sein Weltbild geriet ins Wanken, die Liebe Jesu Christi hat ihn tief berührt und seine Prioritäten komplett verschoben. So etwas nennt man heute eine Krise, die alles infrage stellt, was vorher war. Eine tiefe Sehnsucht wurde in ihm geweckt, die so stark war, dass er sein altes Leben hinter sich ließ, dass er mit seinem gewohnten Umfeld brach und einen Neubeginn wagte. Seine Vergangenheit wollte er hinter sich lassen - und doch ist in seinem ganzen brieflichen Werk seine Vergangenheit spürbar. Sein Talent der Sprache, sein Wissen um die rabbinische Auslegung und die Schriften des Alten Testamentes. Ja, seine Ziele haben sich verschoben, aber sein Wirken ist geprägt von seiner Vergangenheit.

 

Wie gehen wir also mit unserer Vergangenheit um?

 

Sie darf uns begleiten, sie darf uns in Erinnerung rufen, woher wir kommen, sie ist und bleibt unsere Wurzel. Aber wir dürfen entscheiden, wieviel Macht sie in Zukunft haben wird. Wir dürfen am Maßstab, den Christus uns gibt, fragen: Dient sie der Liebe? Bringt sie mich dazu, Menschen offen zu begegnen? Unterstützt sie mich, meiner Berufung zu folgen? Oder verhindert sie echte Begegnung, mit Gott, mir selbst und meinen Mitmenschen? Keine leichten Fragen für unser Leben – Fragen, die wir im Gebet vor Gott bringen dürfen. Denn Glauben leben heißt auch, der Sehnsucht zu folgen, die uns von Gott ins Herz gegeben ist. Ich wünsche uns, dass wir diese Sehnsucht für unsere Zukunft finden.

Amen.