Im Laufe der Jahrhunderte sind die zum Heilgeistkloster gehörenden Bauten mehrfach zerstört und verändert wiederaufgebaut worden. Brände stellten das eine oder andere Mal die Ursache für solche Verheerungen dar, oftmals - wie 1715 und zuvor in den Jahren nach 1640 - waren es aber auch Beschuss und Belagerung von Seiten mächtiger Rivalen, deren sich die aufstrebende Handelsstadt zu erwehren hatte. Noch in den 1990er Jahren förderten Restaurierungsarbeiten am Heilgeistkloster allerlei Einschusslöcher und Kanonenkugeln zutage. So kommt es denn auch nicht von ungefähr, dass die Ursprungsbebauung des Viertels aus dem frühen 14. Jahrhundert heute nicht mehr dokumentiert werden kann und auch nur vage zu erschließen ist aus dem Wenigen, was unbeschadet die Zeiten überdauert hat. Eines aber hat das Stralsunder "Elendenquartier" ungeachtet aller Veränderungen von jeher ausgezeichnet: Stets bildete die Heilgeistkirche sein natürliches Zentrum.
Den lang gestreckten rechteckigen Bau, der sich heute als mehrfach überformte Backsteinhallenkirche aus dem frühen 15. Jahrhundert präsentiert, als dreischiffige, vierjochige Kirche mit schmalen Halbjochen an der Westseite zu beschreiben, würde wohl nicht ausreichen, um die Besonderheit dieses Gotteshauses zu charakterisieren. Für jeden Besucher macht ein Gang durch die von Kreuzrippengewölben überspannten Seitenschiffe spätestens im Osten deutlich, dass hier kein alltäglicher Gebäudetypus vorliegt. Dort nämlich, wo man normalerweise das Chorpolygon oder eine Apsis mit dem Hochaltar erwarten würde, öffnet sich der flach geschlossene Bau auf einen beidseitig bebauten Kirchgang, der sich in etwa gleicher Länge und Breite an die Kirche anschließt.
Den selbstverständlichen Bezug auf die Kirche unterstreichen zwei in der Barockzeit angelegte Durchgänge, die von der Galerie aus den Zutritt zu einer Empore an der Ostwand des Gotteshauses ermöglichen. Hier konnten diejenigen dem gottesdienstlichen Geschehen folgen, die nicht in der Lage waren, den Weg durch das ebenerdige Mittelportal zu nehmen. Aber selbst die Bettlägerigen mussten keineswegs auf Predigt und Gesang verzichten. Noch 1996 bemerkte eine Bewohnerin des Kirchgangs, dass sie des Sonntags vom eigenen Wohnzimmer aus Predigt und Orgelspiel verfolge, ja, dass sie aufgrund der guten Akustik gar nicht umhin könne, sich dem gottesdienstlichen Geschehen zu widmen. Der Alltag des Heilig-Geist-Hospitals war eben so geordnet, dass die Kirche als Hort des Glaubens und des Gottvertrauens stets den eigentlichen Bezugspunkt des "Klosterlebens" darstellte.
Kirche und Kirchgang beschreiben denn auch spiegelbildlich die sich ergänzenden Hälften eines größeren Ganzen, das wiederum in dem durch ein mehrstrahliges Sternengewölbe überspannten Altar sein eigentliches Zentrum besaß. Hier drückte das große Altargemälde mit der Himmelfahrt Christi - spätestens seit der Barockzeit - sinnfällig das aus, worum es in dem klösterlich organisierten Lebensverbund vor allem ging: die Vorbereitung auf die Nachfolge Christi. Wie die Emmauspilger in der Sockelzone des Altars sollten auch die Stralsunder Hospitaliten ihren Lebensweg in Sinne christlicher Pilgerschaft verstehen als ein zu durchschreitendes Jammertal, Vorbereitung auf die Auferstehung.
(veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Redaktion Monumente Online (Juni-Ausgabe 2010), Magazin der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Bonn. Text: Prof. Dr. Ingrid Scheurmann, Deutsche Stiftung Denkmalschutz.)